Ein Flößerjunge trieb zur Stadt flußabwärts mit dem Floß,
Das Floß zog durch den finstern Wald mit Tannen schlank und groß

In einer stillen Seitenbucht sah er der Fräulein viel
Vor einem Inselgartenkiosk jagen im Pfänderspiel.

Vorübergleiten wollte da der kluge Ferge sacht.
Da hatte sich die kecke Schar zum Angriff aufgemacht.

Sie stürmten schreiend an den Strand und enterten das Boot
Und führten ihn gefangen fort. Das litt er ohne Not.

Man band mit einem roten Tuch ihm fest die Augen zu.
"Nun fange dir ein Schätzelein, du frecher Bube du!"

Husch! tappt er blindlings hin und her, reckte den schnellen Arm.
Fischte mit krummen Fingern flink unter dem Mädchenschwarm.

Jetzt faßt er etwas Zappliges am Schopf und Lockenbund,
Das hielt er mit den Armen fest und küßt es auf den Mund.

Sie aber riß ihm zornentbrannt die Binde vom Gesicht:
"Hättest du erraten, wen du fingst, so küßtest du mich nicht."

Der Flößer sah sie blinzelnd an und lächelte ein klein.
"Du bist", versetzt er, "Wildubrand, des Kaisers Töchterlein."

"Ich bin’s", bejahte Wildubrand, "und weil, was du getan,
Du ohne Arglist hast verübt, biet ich dir Gnade an.

Doch wenn dein schnöder Bauernmund, von Eitelkeit gebläht,
Auch nur mit einem einzigen Wort und Zeichen je verrät,

Wes du dich unterfangen, dann - dann Büblein, gnad dir Gott!
Man heilt der Fürstenkinder Ruf mit Henker und Schafott."

Er schwur zu Schweigen immerdar, er schwur es ohne Trug!
Das Glück im stillen Herzensgrund, es schien ihm Glück genug.

Drauf setzt er weiter mit dem Floß die unterbrochne Fahrt,
Platt auf den Rücken hingestreckt, wie das so seine Art.

Und als nun durch den kühlen Bühl die warme Sonne schien,
Da kam allmählich unvermerkt der Schlummer über ihn.

Das Floß ging seinen stillen Gang, gleitend von Baum zu Baum,
Den Flößerjungen schaukelte ein wonniglicher Traum.

Jetzt flüstert er und lallt im Schlaf: "Ihr lieben Leute, wißt:
Ich hab des Kaisers Töchterlein, die Wildubrand, geküßt."

Ein Wiedehopf im Weidenbusch vernahm das frevle Wort,
Das bracht er mit gesträubtem Schopf entsetzt zur Elster fort.

Die Elster trugs zum Papagei, der Papagei zum Star.
Nach einer Stunde wußt es schon die ganze Spatzenschar.

Und als am Abend vor der Stadt er landete beim Zoll,
Da war der ganze Hafenplatz von wildem Aufruhr voll.

Die Menge schrie ihm ins Gesicht, und heimlich seinen Arm
Erfasste mit behendem Griff ein grimmiger Gendarm.

Der führt ihn stracks zum Henker hin, der Henker aufs Schafott.
Da nahte mit dem Kruzifix ein Mönch, gesandt von Gott:

"Bekenne, beichte mir ins Ohr die Sünden alle dein."
"Ich hab geküßt die Wildubrand, des Kaisers Töchterlein."

Der Henker schor die Locken ihm und zog ihm aus den Rock,
Dann legt er ihm das junge Haupt behutsam auf den Block:

"Sprich einen frommen Abschiedsspruch zum Volke klar und laut,
Damit an deiner Reue sich der Gläubige erbaut."

Der Flößer hob den feuchten Blick zum fernen Tannenwald,
Dann schickt er über Stadt und Land die Stimme mit Gewalt:

"O lieber Henker, ziele gut mit deinem scharfen Beil,
Ich spüre keine Reue nicht und hab auch keine feil.

Mein Seel gehört dem lieben Gott, dem Kaiser ist mein Blut,
Doch, daß ich Wildubrand geküßt, des bin ich frohgemut.

Ich jauchz es durch die weite Welt und wills im Himmel schrein:
Ich hab geküßt die Wildubrand, des Kaisers Töchterlein."

Carl Spitteler

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schweizerischer Dichter und Romanautor, Nobelpreis für Literatur 1919
* 24.4. 1845 - Liestal
29.12. 1924 - Luzern
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