Das Schiff ging seinen steten Gang,
das Meer war weit, der Tag war lang.
Ich lag im dumpfen Kämmerlein,
da kam ein Traum zu mir herein.

Mir war, ich stände ohne Zweck
und Absicht auf dem Achterdeck.
Da flog ein Engel, wohlbekannt,
aus meinem teuren Mutterland,
schwebt´ auf den Wellen, glitt und schliff
im Wettstreit mit dem schnellen Schiff.
Die Flügel schwang er durch die Luft,
da quoll´s wie Heimatsbergesduft.
Dann sang er einen starren Ton.
Da leuchtete die Welt davon.
Ein zweiter Engel nach ihm sang
denselben starren schönen Klang,
und kaum erschloss er seinen Mund,
so grünte rings die Welt im Rund.
Und immer neue Engel mehr
erschienen durch die Luft daher.
Mit rosigem Farbentaumeltanz
umringten sie das Schiff im Kranz.
Jetzt hoben sie sich plötzlich auf
und flatterten zum Deck hinauf.
Die einen setzten sich aufs Bord,
die andern auf die Segelrah´,
wohin mein trunk´nes Auge sah,
ein liebes Antlitz grüßte dort.
Sie wechselten den Platz im Flug.
Die Schwingen blitzten Zug auf Zug.
Vom Bugspriet bis zum Mastenspitz zuckte der Silberflügel Blitz.

Mir ward so wohl, mir ward so weich,
ich schrie: »O Gott, wie bin ich reich.«

Doch als ich wiederum erwacht´,
umfing mich kalte Regennacht.
Schnöde Gesichter um mich her,
und um und um das öde Meer.
Ich leg´ den Kopf auf meinen Arm:
»Wie war ich reich, wie bin ich arm.«

Carl Spitteler

DENKSCHATZ_MORE_FROM

schweizerischer Dichter und Romanautor, Nobelpreis für Literatur 1919
* 24.4. 1845 - Liestal
29.12. 1924 - Luzern
Please login to view comments and to post

We use cookies on our website. Some of them are essential for the operation of the site, while others help us to improve this site and the user experience (tracking cookies). You can decide for yourself whether you want to allow cookies or not. Please note that if you reject them, you may not be able to use all the functionalities of the site.