Werft keinen Stein auf Jene, die gefallen,
Der Mensch ist schwach, Versuchung über allen;
Vielleicht hat nichts euch mit der Welt entzweiet,
Vielleicht das Glück nur euch vom Fall befreiet:
Nur keinen Stein!

Habt Ihr denn auch in ruhelosen Stunden
Der Kränkung Qual, des Mangels Pein empfunden,
Empfandet ihr bei leicht bewegtem Blute
Tyrannen-Druck, den Hohn vom Uebermuthe –
Nur keinen Stein!

Ihr seht die That, doch auch des Thäters Schmerzen?
Habt ihr gelesen auch in seinem Herzen?
Er fiel – allein, er hat wohl auch gestritten,
Er hat gefehlt, doch hat er auch gelitten –
Nur keinen Stein!

Und müßt mit Abscheu wenden ihr die Blicke
So wendet sie zu Besseren zurücke;
Nicht soll durch euch sein kaltes Herz erwarmen,
Nehmt Hülfe ihm, ja nehmt ihm selbst Erbarmen,
Nur keinen Stein!

Der Stein, den ihr geschleudert auf die Sünder
Er fällt auf euch vielleicht, auf eure Kinder –
Man fragt euch einst an eines Thrones Stufen
Wer hat zu And´rer Richter euch berufen?
Nur keinen Stein!

Als reuerfüllt, mit flehender Gebehrde
Das Weib geknieet vor dem Herrn der Erde,
Und als der Herr sie All´ betrachtend, fragte:
"Wer ruft zuerst?" – Wer war es, der es wagte?
Nur keinen Stein!

Johann Ludwig Deinhardstein

Additional Information

»Pharus am Meere des Lebens«, herausgegeben von Carl Coutelle, Verlag von J. Bädeker, 1884 – Originaltext –
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