Ah Nachtigall! Es fernte kaum
Sich im beglückten Morgentraum
Mein jahrelanger Kummer,
Da scheuchtest du den Schmeicheltraum
Und meinen süßen Schlummer.

Schon war ich tot; empfand nicht mehr
Des Mädchens Stolz, das liebeleer
Auf meine Leiden blickte,
Und doch mit jedem Tage mehr
Den trunknen Blick entzückte!

Sie kam an meinen Hügel hin,
Sah, wie ein Strauch von Rosen ihn
Mit Blüten überdüftet,
Und lehnte sich ans Grabmal hin,
Das Freunde mir gestiftet.

Brach eine von den Rosen ab
Und streute sie bethränt aufs Grab.
Mit trauervollem Blicke
Sah sie noch einmal bang herab
Und eilte blaß zurücke.

Was rufst du mich, o Nachtigall,
Zurück ins Leben voller Qual
Durch schmeichelhafte Lieder?
Nun fühl´ ich, harte Nachtigall!
Den Stolz des Mädchens wieder.

Johann Martin Miller

DENKSCHATZ_MORE_FROM

deutscher Theologe und Schriftsteller
* 3.12. 1750 - Ulm, Baden-Württemberg , Deutschland
21.6. 1814 - Ulm, Baden-Württemberg , Deutschland
Please login to view comments and to post