Das Volkslied ist ein Findelkind,
geboren an der Gassen,
dort han die Eltern, freigesinnt,
das Kleine liegen lassen.
Da kam ein Wanderbursch daher,
der packt es in sein Bündel
und führt auf Fahrten kreuz und quer
mit sich das süße Kindel.

Er füttert es mit blauer Luft
und Licht vom Abendsterne,
er hat´s getränkt mit Fliederduft
und Weine aus der Taberne.
Ließ taufen es nach frommem Brauch
und tät´s im Singen üben,
doch lehrt er ihm das Trinken auch,
das Tanzen und das Lieben.

Bei Hammerschlag und Funkengold
in eines Meisters Klause,
da war die Jungfrau wunderhold
das erstemal zu Hause.
Doch grüßt sie auch den Bauersmann
beim Pfluge dort im Winde
und führte ihm den Reigen an
des Abends bei der Linde.

Zog mit Soldaten in den Krieg
und spornte sie zur Rache,
und sang beim Kampf und sang beim Sieg
und sang auf stiller Wache,
und sang mit nimmermüdem Sinn,
wo sich nur Menschen fanden -:
Da wurde sie die Königin
in allen deutschen Landen.

Paul Keller

Additional Information

Paul Keller »Gedichte und Gedanken«, 1933

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deutscher Schriftsteller
* 6.7. 1873 - Arnsdorf bei Schweidnitz, Schlesien
20.8. 1932 - Breslau
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