Stapft ein Maidlein auf die Lützelalp,
Flink und frei und sauber allenthalb.
Bar der Scheitel, Füß und Waden nackt
Und die Ärmchen mit der Post bepackt.
Senngehöfte lehnten ihrer drei
An der Halde in derselben Reih.
Furchtsam hielt sie an der ersten Tür,
Kramt ein Brieflein ordentlich herfür.
Schritt zum zweiten Gaden alsodann,
Bracht ein sattes Päckchen an den Mann.
Endlich drüben bei dem dritten Haus
Langte sie ein Telegramm heraus.
Hüpfte dann und jauchzt ein dutzendmal,
Lief mit lustgen Sprüngen heim zu Tal.
Gab den Beutel ab im Postkontor,
Schloff zu Bett und legte sich aufs Ohr.

Aber oben in der Alpennacht
Ward bei Licht die ganze Nacht gewacht.
Aus dem hintersten der Weiler drei
Klagte Jammerruf und Wehgeschrei.
In dem mittleren war Mordio im Schwang.
Aus dem ersten becherte Gesang.

Maidlein mit dem Kinderangesicht,
Sag, was hast dort oben angericht´?
Säh man’s auch den nichtigen Händlein an,
Daß dir Fluch und Segen klebt daran?

Carl Spitteler

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schweizerischer Dichter und Romanautor, Nobelpreis für Literatur 1919
* 24.4. 1845 - Liestal
29.12. 1924 - Luzern
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