Lieber Freund ich komme soeben
Von Deiner Behausung – was soll das geben?
Du bist verduftet, verschwunden, verschollen,
Ich stand vor der Thür u. durft Dir nicht grollen –
Hohl klang die Glocke vom Corridor.

Ich kam zu Dir in der höchsten Not
Woll betteln bei Dir um ein Abendbrod;
Ich dachte des Worts, das Du unlängst gesprochen
Und hoffte, ich werde vergebens nicht pochen –
Hohl klang die Glocke vom Corridor.

Wohin Du gegangen, wie lange Du bleibst
In welcher Kneipe Du Abends kneipst –
Ich kunnts nicht erfragen, kunnts nirgends entdecken,
Ich stand vor der Thür, aufhorchend mit Schrecken –
Hohl klang die Glocke vom Corridor.

"Zu Hause" so las ich vom blechernen Kastenh,
Drin sonst Deine Briefe, die wartenden, rasten –
Zu Hause! Zu Hause, da wartete mein,
Was ich brächte, mein Weib mit der Ungeduld Pein –
Hohl klang die Glocke vom Corridor.

Ich läutete wohl an die fünfzig Mal,
Doch es regte sich nichts ... In der Brust nur die Qual
Und im Magen der Wurm – selbst Leo, der Hund,
That mir nicht seinen wärmendenb Ingrimm kund –
Hohl klang nur die Glocke vom Corridor. –

–––––– –––––

Nun schlafen sie All´, ich wache allein
Und denke, Du wirst wohl im Farchland sein,
Doch derweil ich Dir schreibe in fliegender Hast,
Geht von Stube zu Stub´ ein hohlwangiger Gast –
Bang tönt´s wie ein Echo vom Corridor.

Ludwig Scharf

Zusätzliche Informationen

›Verstreut veröffentlichte und handschriftlich überlieferte Gedichte‹ (1883-1926), in: »Ludwig Scharf: Gesammelte Lyrik und Prosa. Mit einer Auswahl aus dem Briefwechsel«, hg. v. Walter Hettche, Aisthesis Archiv 16, Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2011. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Aisthesis Verlags

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deutscher Lyriker
* 2.2. 1864 - Meckenheim, Pfalz
21.8. 1938 - Schloß Patosfa bei Kaposvár, Königreich Ungarn
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