Gedichte von Karl May

Karl May

Karl May

deutscher Schriftsteller
* 25.2. 1842 - Ernstthal, Sachsen , Deutschland
30.3. 1912 - Radebeul, Sachsen , Deutschland

Schließ auf das Tor; laß seine Flügel springen;
zünd deine Leuchte an in allen Landen!
Mir ist, als hörte ich den Ruf erklingen,
es sei der Tod zum Leben auferstanden.
Breit deine Fluren aus und deine Pfade;
laß deine Wasser klar und freundlich fließen,
und von dem Himmel möge sich die Gnade
auf Alles, was die Erde trägt, ergießen.
Schließ auf das Tor; es tritt die Menschheit ein;
o, laß ihr diesen Schritt gesegnet sein!
Schließ auf den Schrein, vor dem wir betend knien,
dem wir die Liebe, die Verehrung zollen,
die wir auf seinen Inhalt doch beziehen
und nicht dem Menschenwerke widmen sollen!
Laß uns erkennen, was wir nicht erkannten,
uns der Geist die Seele stets verhehlte;
laß uns verstehen, was wir nicht verstanden,
weil uns die wahre Liebe nicht beseelte.
Schließ auf den Schrein, und zeig, was er enthält,
daß mit dem Schleier auch der Irrtum fällt!
Schließ auf die Herzen; nirgends stehn sie offen,
denn jedes will nur für sich selbst empfinden,
und doch ist es ihr eignes, schönstes Hoffen,
daß sie in Liebe sich zusammenfinden!
Laß diese Liebe endlich doch erwachen
und aus dem Ich heraus ins Leben steigen,
die Menschen zur gesamten Menschheit machen
und sich als Seele dieses Leibes zeigen.
Schließ auf die Herzen; lehre sie verstehn,
daß alle Pulse nur als einer gehn!
Schließ auf das Paradies; gib es uns wieder!
Wir wollen heim; wir wollen Frieden halten.
Der Vater ist das Haupt; wir sind die Glieder;
nur seine Güte soll im Hause walten.
Sei du die Zeit, die uns um ihn versammelt,
zeig uns der Worte köstlichstes auf Erden,
das unsre Bitte um Versöhnung stammelt,
dann wirst du eine Zeit des Edens werden.
Schließ auf das Paradies, das Gottesland,
und sei uns zur Erleuchtung zugesandt!

Ich war bei dir, in einem andern Leben,
und doch, ein andres Leben war es nicht.
Ich sah dich wie in Lichtes Fluten schweben,
und doch und doch gebrach es mir an Licht.
War bei dir, ich weiß nicht, ob am Tage,
ob auch vielleicht in sternenarmer Nacht,
und finde keine Antwort auf die Frage,
welch Intervall mich dir emporgebracht.
Es schien mir wie in unbekannter Ferne,
und doch war diese Ferne mir bekannt;
du strahltest wie auf einem andern Sterne,
und doch war dieser Stern mein Vaterland.
Wir trafen uns so weltenabgelegen,
ich weiß es nicht, in welchem Geisterreich;
du kamst wie eine Fremde mir entgegen,
und doch und doch erkannte ich dich gleich.
Ich hatte dich so oft, so gern gesehen,
als pilgernd ich zum Morgenlande kam;
ich sah dich leiden, und so ist´s geschehen,
daß ich dein Bild im Herzen mit mir nahm.
Du gingst von dort nach allen, allen Landen.
Doch, wo du grüßtest, dankte man dir kaum.
So bliebst du unbeachtet, unverstanden,
ein armes Weib der Menschheit Jugendtraum.
Nun war ich bei dir, jetzt, emporgetragen
von meiner Liebe, die dir treu verblieb,
denn wie sie dich geliebt in jenen Tagen,
so hat dich meine Seele jetzt noch lieb.
Und wie mein Herz dein Weh mit dir gelitten,
der Menschheit großes, selbstverschuldet Leid,
so hab ich mutig stets für dich gestritten
und bin für dich auch ferner kampfbereit.
Mir ist ja die Erkenntnis aufgegangen,
die leider nicht ein Jeder in sich trägt,
daß der Verwandtschaft Bande uns umfangen
und daß mein Puls grad wie der deine schlägt.
Ich weiß es, daß ich mit dir steh und falle;
daß deine Zukunft auch die meine ist
und daß als leiser Ton ich mit erschalle
in dem Akkorde; dessen Klang du bist.
Als dieser Ton bin ich emporgeklungen
auch heut zu dir und klinge fort und fort;
als dieser Ton hab ich auch mitgesungen
dein Klagelied, dein holdes Friedenswort.
Ich weiß es wohl, es wird umsonst erklingen,
so viel der Mensch vom Völkerfrieden spricht;
ihn kann ja nur die wahre Liebe bringen,
und diese, diese kennt der Mensch noch nicht.
Ich dachte dein und durfte zu dir steigen;
es war so licht, so hell, so klar bei dir,
und dennoch konntest du dich mir nicht zeigen,
denn dunkel, menschendunkel war´s bei mir.
Du gingst vorüber, und in frommer Feier
verklang in mir der Wehmut heilger Ton;
es legte sich um mich der Hoffnung Schleier - -
du warst verschwunden; warst der Welt entflohn.

Gedichte von Karl May (Seite 2)
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