Sie log nur so, daß die Fetzen flogen,
Ihr zweites Wort war sicher gelogen,
Und wenn sie nichts zu erzählen gewußt,
Dann log sie erst recht nach Herzenslust.

Sie ging auf die Straße und fand eine Lüge,
Sie kam aus der Kirche und wußt ein Lüge:
Bei ihrer Frau Base, bei ihrem Mann,
Ihr Lüge auf Lüge vom Munde rann.

Sie log aus Not und log aus Vergnügen,
Sie log aus der reinsten Freude am Lügen,
Ja, selbst ihr Träumen war Lügengespinst –
Des anderen Glaube nur war ihr Gewinst.

Und als sie nun endlich zum Sterben gekommen,
Und der Lügenteufel sie zu sich genommen:
Was Wunder, wenn solch einer Frauen Mann
Ihr nun auch ihr Sterben nicht glauben kann?

Er kam betrunken nach Haus wie immer
Und nahte sich schwankend dem traulichen Zimmer –
Laut redend hat er am Wege studiert,
Wie er ihr Keifen und Lügen pariert.

Da trat ihm entgegen mit tränender Nase
Und schluchzender Stimme die gute Frau Base –
Er aber schrie polternd, vom Zorne rot:
»Sie lügt, sie lügt! Sie stellt sich nur tot!«

Ludwig Scharf

Zusätzliche Informationen

›Verstreut veröffentlichte und handschriftlich überlieferte Gedichte‹ (1883-1926), in: »Ludwig Scharf: Gesammelte Lyrik und Prosa. Mit einer Auswahl aus dem Briefwechsel«, hg. v. Walter Hettche, Aisthesis Archiv 16, Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2011. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Aisthesis Verlags

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deutscher Lyriker
* 2.2. 1864 - Meckenheim, Pfalz
21.8. 1938 - Schloß Patosfa bei Kaposvár, Königreich Ungarn
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