Gedichte von Carl Spitteler

Carl Spitteler

Carl Spitteler

schweizerischer Dichter und Romanautor, Nobelpreis für Literatur 1919
* 24.4. 1845 - Liestal
29.12. 1924 - Luzern

Durch die Pappeln glänzte der Vollmond schon.
Mit der Geißel zeigte der Postillon:
"Meine Herren, dort oben im Mondenschein
Die Mauer, die nennt man den Kummerstein.
Es geht eine Sage schaurig und graus
Darüber im Lande bei uns zu Haus.

Vor alten Zeiten, entschwunden längst,
Saß dort an der Straße ein stummes Gespenst.
Wer einmal demselben ins Auge gesehn,
Mußt selbigen Jahres zugrunde gehn.
Schlich traurig umher und härmte sich
Und weinte zuweilen bitterlich.
Warum? Ja was weiß ich, es steht nicht im Buch.
Es heißt, man behauptet, es war ein Fluch.
Die einen glaubens, die andern nicht.
´s ist halt so ein Märchen, ´s ist halt ein Gedicht."

Die Herrchen verlachten die alberne Mär.
Doch als nun die Mauer kam näher daher,
Da lief ob dem alten verspotteten Wahn
Ein heimliches Frösteln im Rücken sie an,
Indessen der Kutscher vor Angst und Not
Gespäßlein und Mätzlein zum besten bot.
Da sprang in den Acker der Sattelhengst -
Wahrhaftig, dort sitzt es, das Kummergespenst!
Was schaukelt es auf den Knien sein?
Des Kutschers lebendiges Töchterlein.
Das lachte gar lustig und wohlgemut.
Dem Vater gefror im Herzen das Blut.

Doch tröstlich der Geist jetzt zu reden begann:
"Habt Frieden! gelöst ist der böse Bann.
Der Kummer in meinem tödlichen Blick,
Er sang von verschollener Welten Geschick.
Weh jenem, der fühlend die Vorzeit begreift:
Sein Geist über Ströme von Tränen schweift.
Mit Blut bis zum Hals ist die Erde gedüngt,
Durch Kinder und Toren wird sie verjüngt.
Weißt, wie man dem Fluche den Dorn entreißt?
Schaff einen, der von dem Fluche nichts weißt.
Man darf, was verschmerzt ist, nicht schmerzen lan,
Ich aber will jetzo zur Rüste gahn."

Er sprachs und das Kindlein Gott empfahl,
Stieg nieder und seufzte zum letztenmal.

Bei strömendem Regen im Biwuak
Kampierten drei müde Rekruten.
Sie legten den Kopf auf den Mantelsack
Und zogen den Hals in die Kutten

Der Regen rauschte, sie merktens kaum,
Und sachte, vom Wunsch zum Gedanken
Begann in Bälde ein tröstlicher Traum
Vor ihren Augen zu schwanken.

Sie meinten in ihrer Phantasei,
Als wären sie schon Generäle,
Im Schlachtengetümmel und Feldgeschrei
Diktierend die barschen Befehle.

Gemeinsam dünkte den dreien vereint,
Man wolle sie überflügeln
Und unerschöpflich flute der Feind
Herab von den mörderischen Hügeln.

Und Adjutanten kämen gesprengt,
Bleichwangig, umblitzt von Granaten:
"Wir sind umzingelt und eingezwängt.
Man meutert. Man wähnt sich verraten."

Da sprach der erste: "Ich hab einen Kern
Von Jägern und von Husaren.
Der Teufel ist ledig und Hilfe ist fern,
Jetzt gilt es, die Ehre zu wahren."

Ingrimmig faßt er den Säbelknauf,
Ermahnte zur Pflicht und zur Ehre,
Dann vorwärts ging es in rasendem Lauf,
Als ob es der Sturmwind wäre.

Aus tausend Schlünden zischte der Tod,
Sie grüßten ihn ohne Bangen,
Die meisten färbten den Boden rot,
Er fiel und wurde gefangen.

Bewundernd pflegt ihn der edle Feind
Und schenkt ihm den rühmlichen Degen.
Er hatte seit Jahren nie geweint,
Jetzt spürt er im Auge sich´s regen

Der zweite sprach: "Ich habe zur Hand
Ein Häuflein von Veteranen,
Ergeben Gott und dem Vaterland
Gehorsam dem Winke der Fahnen."

Rasch formt er das Viereck zum letzten Stoß.
"Brüder", begann er begeistert,
"Gott ist uns dawider, der Feind ist zu groß,
Der Tod nur wird niemals bemeistert.

Heut heißt es bekunden, was einer wert,
Und ob den Vätern wir gleichen.
Wir kämpfen, so lange der Atem währt,
Und hemmen den Durchpaß als Leichen."

"Hurra!" erscholl es wie Donnergebraus.
Dann rückten sie mit Gesange
Langsam aus dem schirmenden Hohlweg hinaus
Zum heiligen Todesgange.

Und als am Abend nach bitterem Streit
Man sah nach den Toten und Wunden,
Da ward von dem Samaritergeleit
Ein schaurig Schauspiel gefunden.

Zu Bergen starrte die tapfere Schar,
Leichnam auf Leichnam geschichtet,
Im toten noch boten Trotz sie dar,
Das Antlitz feindwärts gerichtet.

Und Freund und Gegner entblößten sich stumm
Vor des Anblicks grausiger Schöne,
Und flüsternd gings in den Reihen um:
"Hier schaut man Heldensöhne."

Doch der dritte schweigend die Karte las
Auf der Brüstung der Kirchhofmauer.
Mitunter hob er das Augenglas
Und nahm den Feind auf die Lauer.

Er spähte nach rechts und spähte nach links,
Die Augen funkelnd vor Tücke.
Wahrhaftig entdeckt er plötzlicherdings
Im Ring die erlösende Lücke.

Und eh einer wußte, wie das geschah,
Hatt er flugs in die Bresche geschmissen
Die Reserven alle von fern und nah
Und dem Feinde die Walstatt entrissen.

Der Regen plätscherte nach wie vor.
Da stieg auf verborgenen Stegen
Gewappnet ein riesiger Geist empor
Und schwebte heran durch den Regen.

Er nickte dem letzten: "Herr General,
Wir lernen uns näher kennen.
Ob früher, ob später, es wird einmal
Der Ruhm deinen Namen nennen.

Ihr andern beide, merkt euch den Satz:
Entschlagt euch das Oberbefehlen.
In jeglichem Regimente ist Platz
Für mutige Fähndrichsseelen.

Pflicht, Ehre, Begeisterung geb ich euch feil,
Sich bescheidend im Unterliegen.
Generäle brauch ich im Gegenteil,
Die nicht vergessen zu siegen."

Es kam einmal vom Himmel her ein Schlitten rot und weiß,
Vom Christkind unverhofft gebracht zum Lohn für Gerdas Fleiß.

Sie zählte schon das Einmaleins und schrieb das ABC,
Und jeden Morgen spähte sie nach dem ersehnten Schnee.

Heut stürmt sie nach dem Tannenrain, in Pelze eingehüllt,
Das Ohr mit weisem Mahnungswort, das Herz mit Glück gefüllt.

Schon sitzt sie, schaut sich trotzig um: "Achtung! Hurra! aus Weg!"
O weh, das steife Fuhrwerk bockt im Zickzack krumm und schräg

Mit offnem Mund keucht sie bergan, versuchts zum andern Mal.
Der Schlitten stolpert links und rechts, doch gleitet nie zu Tal.

Inzwischen dunkelts im Zenit. Ein flaumig Flockenheer
Flüstert vom Himmel leis herab, und einsam wird umher.

Ihr wird so bang, ihr wird so kalt, das Weinen steht ihr nah.
Und müder stets und matter tönt ihr klägliches Hurra.

Sieh da, was blinkt und schimmert dort im Tannendickicht? Schau,
Auf einem moosbewachsnen Strunk sitzt eine hehre Frau,

Im Königsmantel blank und rein, mit Hermelin bestickt.
"Soll ich dir helfen, gutes Kind?" versetzt sie. Gerda nickt.

Sie nimmt das Mädchen auf den Schoß, fein sanft und warm gewiegt.
Juch, wie mit lustgem Federschwung der Schlitten talwärts fliegt!

Verschwunden ist die Müdigkeit, das Auge jauchzt und strahlt.
Und unversehens glänzt die Welt mit Märchenschein bemahlt.

Es lebt der Wald, es singt die Luft, so hold, man glaubt es kaum.
Diamanten sprüht das Gletscherfeld und Sterne sprießt der Baum.

"Gerda!" erscholl der Mutter Ruf. Sie hört es mit Verdruß
Die Frau erschrickt, erhebt sich, flieht nach einem kurzen Kuß.

Nach sieben Tagen blies der Föhn vom Berge lau und lind.
Was weinen und was wimmern so die Glocken durch den Wind?

Schulmädchen folgen einem Sarg, den Wagen lenkt der Tod.
Verlassen steht im Kämmerlein der Schlitten weiß und rot.

Ein grünes Kränzlein liegt darauf mit einem Bibelspruch.
Und ewig klafft im Einmaleins ein ungelöster Bruch.

Gedichte von Carl Spitteler (Seite 3)
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